Loop Way to London
Konzipiert für das Finale des internationalen Moeck/SRP Wettbewerb 2017, London. | Designed for the final of the international Moeck/SRP competition 2017, London
Programm | programme
Hildegard von Bingen (1098-1179)
Kyrie
Biagio Marini (1594-1663)
Sonata variata op.2
Anonymous, published by Christophe Ballard (1703)
„J’avois cru qu‘en vous aymant“
Georg Philipp Telemann (1681-1767)
Fantasia Nr.9
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Flute Sonata BWV 1034, Adagio, Allegro, Andante, Allegro
Peter Hannan (*1953)
RSRCH 12/84 „Dream“
Nicola Matteis (1650?-1703?)
Ground after the Scotch Humour
Programmnotizen | programme notes:
Mein Programm lädt Sie ein, uns auf unserer Reise nach London zu begleiten. Wir brechen im mittelalterlichen Deutschland auf und unternehmen einen (Um)Weg durch Zeit, durch verschiedene Stile, Länder, Stimmungen. Unser Ziel ist London, das Hier und Jetzt, geprägt von einem zeitgenössischen Stück, das - laut einer Anmerkung in der Partitur - in London komponiert wurde.
Mein Wörterbuch schlug das Wort "loop way" als Synonym für Umweg vor. Obwohl keiner meiner englischsprachigen Freunde diesen Begriff kannte, zog ich ihn vor. Er fängt nicht nur die Tatsache ein, dass wir nicht den direkten Weg nehmen, sondern von Deutschland nach Italien nach Frankreich, zurück nach Deutschland und eben von dort nach Großbritannien fahren. Er weist auch darauf hin, dass die meisten Stücke, die ich ausgewählt habe, die eine oder andere Art von sich wiederholender "Loop"-Technik verwenden, über die dann Variationen gemacht werden.
Bevor wir uns auf die Reise begeben, bitten wir Hildegard von Bingen um einen Reisesegen. Sowohl in der anglikanischen als auch in der katholischen Kirche verehrt, verbindet Hildegard von Bingen unseren Ausgangsort mit unserem Ziel.
Deutschland und Italien werden durch den exzentrischen Frühbarock-Komponisten Biagio Marini verbunden. Seine "Sonata variata", die 1629 veröffentlicht wurde, entstand vermutlich während seiner Arbeit für einen deutschen Herzog. Wie eine Miniaturoper führt uns das Stück durch ein Feuerwerk unterschiedlicher Affekte, wobei der Titel "variata" wahrscheinlich auf einige sich wiederholende Bassmuster verweist.
Die letzten Funken des Feuerwerks verblassen, während wir uns auf den Weg ins Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts begeben. "J'avois crû qu'qu'en vous aimant" stammt aus einer von Christophe Ballard zusammengestellten Sammlung von Liedern verschiedener Komponisten, die 1703 veröffentlicht wurde. Es ist eine Klage über ein unerfülltes Liebesversprechen. Wieder loopt sich der Bass, während die Solostimme ihre anfänglich einfache Melodie zu einer zunehmend ornamentierten fortentwickelt. Wer weiß, ob nicht ein gebrochenes Herz einer der Gründe ist, warum wir den Kontinent verlassen wollen?
Doch zunächst greift Georg Phillip Telemann ein und versucht, unsere Liebenden zu versöhnen, indem er den französischen und den deutschen Stil miteinander verschmelzen lässt. Da selbst das glänzend klingende A-Dur, in dem ich die Fantasie Nr. 9 spiele, uns nicht zum Bleiben überreden kann, versprechen wir Georg wenigstens, einige seiner Blumensamen zu seinem Freund Händel nach London zu bringen. Wir sind im Begriff zu gehen, als Johann Sebastian Bach sich uns in den Weg stellt. Er besteht darauf, eine letzte monumentale deutsche Erklärung abzugeben - nicht, um uns zurückzuhalten, sondern um uns unsere Herkunft nicht vergessen zu lassen. Er denkt sogar über unsere Notwendigkeit von Loops im Bass, einem Ground ähnlich, des dritten Satzes nach. Sein jüngster Sohn, Johann Christian, bietet uns während der ersten Tage in London seine Couch zum Schlafen an.
London ist anscheinend der Ort, an dem wir unsere Träume erforschen sollen. Warum sind wir hierher gekommen? Was wollen wir hier? RSRCH "Traum" (1984) von Peter Hannan ist eine Studie über Multiphonics. Die sehr begrenzte Auswahl an musikalischen Parametern und die eher meditative Einleitung erinnern vielleicht sogar an Hildegard. Sind wir nur hierher gekommen, um das zu finden, was wir gerade verlassen haben - schlagen wir eigentlich nur einen Loop zurück? Aber die leicht variierten Wiederholungen derselben Töne verwandeln sich Schritt für Schritt in rhythmisch reiche Variationen. Ich überlasse es Ihnen, zu entscheiden, ob diese Forschung nach einer fortschreitenden Entwicklung klingt - oder nach einem Umdrehen im Kreis, anstatt etwas zu finden.
Aber letztendlich nehmen wir die britische Lösung: den Humor. Nichts zu ernst nehmen. Und vielleicht ist es schon Zeit für den 5 o'clock Tee. Gönnen wir uns also noch einen letzten Loop: "Ground after the Scotch Humor", geschrieben von Nicola Matteis, der Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Rucksack und barfuß von Italien über Deutschland nach London ausgewandert sein soll. |
My program invites you to join me and my accompanist on our trip to London. We set off in medieval Germany, and then take a (de)tour through time, through different styles, countries, atmospheres. Our goal is London, the here and now, marked by a contemporary piece which was - according to a note in the score - composed in London.
My dictionary suggested the word „loop way“ as a synonym for detour. Although none of my native English speaking friends knew this term, I preferred it to detour. It not only captures the fact that we don’t take the direct route but go from Germany to Italy to France, back to Germany, and just then from there to Great Britain. It also points out that the majority of the pieces I have chosen, use one or another kind of repetitive “loop” technique, on which variations are then made.
Before setting off on our journey, we ask Hildegard von Bingen for a travel blessing. Worshiped as she was, in both the Anglican and Catholic churches, Hildegard links our place of departure to our destination.
Germany and Italy are linked by the eccentric early-baroque composer Biagio Marini. His “Sonata variata”, published in 1629, was probably written while he was working for a German duke. Like a miniature opera, the piece leads us through a firework display of different affects, the title “variata” probably refering to some repeating bass patterns.
The last sparkles of the fireworks fade away as we move on to early 18th-century France. “J’avois crû qu’en vous aimant” stems from a collection of songs by various composers put together by Christophe Ballard, published in 1703. It is a lamentation of an unfulfilled love promise. Again, the bass loops, while the solo voice develops its initially simple melody into an increasingly ornamented one. Who knows if a broken heart isn’t one of the reasons why we wish to leave the continent?
But first Georg Phillip Telemann intervenes, trying to reconcile our lovers by melting together the French and the German style. Since even the shiny sounding A-Major, in which I play the fantasia Nr.9, can’t convince us to stay, we at least promise Georg to take some of his recently elaborated flower seeds to his friend Händel in London. We are about to leave, when Johann Sebastian Bach puts himself in our way. He insists on making a last German monumental statement - not to keep us back, but to make us not forget our origins. He even considers our need for loops in the ground-like bass of the third movement. His youngest son, Johann Christian, offers us his couch to sleep on during the first days in London.
London, apparently, is the place where we are supposed to do research into our dreams. Why did we come here? What do we want? RSRCH “Dream” (1984) by Peter Hannan is a study about multiphonics. The very limited choice of musical parameters and the rather meditative introduction might even remind one of Hildegard. Did we come here only to find what we just left - are we actually just looping back? But the slightly varied repetitions of the same notes shift, step by step, into rhythmically rich variations. I leave it to you to decide if this research sounds like a progressive development – or like turning around in circles instead of finding something.
But eventually, we take the British solution: Humour. Don’t take it too seriously. And maybe it’s already time for tea. So let’s indulge ourselves with a last loop: “Ground after the Scotch Humour”, written by Nicola Matteis, who is said to have emigrated, backpacking from Italy via Germany to London, at the end of the 17th century.